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Frankfurt am Main verfĂŒgt, was manchen ĂŒberraschen mag, ĂŒber eine der vitalsten deutschen Musikszenen. Entgegen dem gĂ€ngigen Vorurteil, dass die Wirtschaftsmetropole mit ihren hohen Lebenshaltungskosten eher ein Soziotop fĂŒr Yuppies als fĂŒr junge KĂŒnstler sei, lockt Frankfurt - gemessen an StadtflĂ€che und Einwohnerzahl - mit einer ungewöhnlichen Vielfalt an musikalischen Strömungen und Dichte an einschlĂ€gigen Angeboten.

Die örtlichen Branchenverzeichnisse fĂŒhren aktuell 320 Unternehmen aus dem Bereich Komposition und Tontechnik. DarĂŒber hinaus gibt es in Hessens einwohnerstĂ€rkster Stadt 110 Musikverlage, elf Hörfunk- und TV-Anstalten und mehr als 1000 öffentlich aktive Bands. UnzĂ€hlige Clubs und Hallen, Musikbunker, Labels, Veranstalter, Konzertagenturen, Online-Foren usw. ergĂ€nzen die weit verzweigte musikalische Infrastruktur (AusfĂŒhrliches hierzu ĂŒber den Indiepedia-Link ganz unten).

Nicht nur quantitativ, auch qualitativ hat Frankfurt Besonderes zu bieten. So ist die Stadt u. a. Veranstaltungsort der grĂ¶ĂŸten internationalen Leitmesse fĂŒr Musikinstrumente, Musiksoftware, Noten und Zubehör. Zu den erwĂ€hnten Musikverlagen gehört mit „Melodie der Welt“ einer der deutschen MaktfĂŒhrer im Pop-Bereich. Und das stĂ€dtische Kulturamt leistet sich - eine veritable RaritĂ€t - die BeschĂ€ftigung einer hauptamtlichen Musikreferentin (frĂŒher etwas umstĂ€ndlich „Referentin fĂŒr Popularmusik“ genannt), die hinter den Kulissen mit kommunalpolitischer Diplomatie, und zuweilen auch mit barem Geld, musikalische Projekte aller Art fördert.

In den Schlagzeilen

In den letzten Jahren und Jahrzehnten brachten die Mainmetropole und ihr Umland reihenweise bekannte, nicht selten auch avantgardistische KĂŒnstler und erfolgreiche Arbeiten aus den verschiedensten Richtungen hervor: Techno, House & Electronica (Sven VĂ€th, Talla 2XLC, Snap!, Kai Tracid, The Oh Oh Ohs), Hip Hop (Moses Pelham, Sabrina Setlur, Azad, D-Flame), Hardrock (Böhse Onkelz, Harmful, Tankard), Mundartrock (Rodgau Monotones, Flatsch!), Punk (Strassenjungs, A.C.K., Antitainment), Gothic (ASP), Neue Deutsche Welle (Markus), Folkpunk (Shantel/ Bucovina Club), Funk (Supermax, Terence Trent D’Arby & Touch), Discopop (örtliche Studioarbeiten von Frank Farian fĂŒr Boney M) oder auch den Teenie-Rockpop der MTV-telegenen „FrĂ€ulein Wunder“.

Schlagzeilen machte darĂŒber hinaus der seit den 90er Jahren in Frankfurt lebende Brasilianer Ivan Santos, als er mit einem seiner Songs einen Grammy nach Hessen holte. Und die zwischen Groovepop und Soul angesiedelte Band Wagner Love, die unlĂ€ngst Lenny Kravitz supportete, steht mit Hilfe ihres Major-Labelvertrags gerade im Begriff, den japanischen Markt zu erobern - auf einer Konzertreise nach Tokio wurde sie im August 2009 von ihren dortigen Fans begeistert empfangen.

Indie & Co

Überaus beliebt beim jungen Publikum der UniversitĂ€tsstadt Frankfurt sind zudem gerade eine Reihe von Newcomerbands, die sich - dank agiler Bookingagenturen inzwischen meist im ganzen Land - mit trendigen Indiepop- und Poppunk-Sounds prĂ€sentieren. Dazu gehören z. B. Cargo City, At The Farewell Party, Something For Heroes, Smell und Whitenights. Zu deren stilistischen Verwandten zĂ€hlen auch Pillow Fight Club, die schon etwas lĂ€nger aktiv sind und gerade ihr zweites Album vorgelegt haben. In pauschalerem Sinne lassen sich dieser Riege noch die Alternative-Rocker Drowning Fate, die 2008 den Deutschen Emergenza-Contest gewannen, sowie die Deutschrock-Soloprojekte von Daniel Wirtz (SĂ€nger der hessisch-westfĂ€lischen Band Sub7even) und Henrick (umtriebiger KĂŒnstler mit Major-Label-Ticket) zuordnen.

Hört man sich in der Frankfurter Szene weiter um, stĂ¶ĂŸt man oft auf KlĂ€nge, die an deutsche Indie-GrĂ¶ĂŸen wie Slut oder Blackmail erinnern. Cloudberry, Sushimob oder Verlen heißen Frankfurter Bands, die sich vernehmlich in diese Richtung orientieren. In der Tat kollaboriert Cloudberry-Chef Marco Pleil sporadisch mit Kurt EbelhĂ€user, dem Mastermind der Blackmail/Scumbucket-Sippe. Noch etwas experimenteller geht es bei Projekten wie Nova Drive (beim Blackmail/Scumbucket-Label bluNoise unter Vertrag), Daturah, ephemeroL, Ayefore und Velveteen zu, die sich zwischen psychedelischem Indie-, Post- und Prog-Rock bewegen.

Im Bereich Techno, House & Dance kann die einstige Jazzmetropole Frankfurt nach wie vor zu den deutschen Hochburgen gerechnet werden. Das Genre hat sich nach langen Boom-Jahren konsolidiert und prĂ€gt die Musikkultur der Stadt in hohem Maße. Ähnliches gilt aber auch fĂŒr eine Szene, die derlei synthetisch-geschliffenen Sounds praktisch die musikalische KomplementĂ€rfarbe entgegensetzt: Rauer, urwĂŒchsiger Garage Rock in Sixties-Tradition steht im Rhein-Main-Gebiet ebenfalls schon seit langem besonders hoch im Kurs. Das Spektrum reicht hier von nostalgischen Fuzz- und Farfisa-Sounds bis hin zur Campus-typischen Neo-Garage-Power im Stil von Mando Diao, The Hives und The White Stripes. Derzeit tummeln sich im Großraum Frankfurt unzĂ€hlige Bands, die stilistisch deutlich von diesen Richtungen beeinflusst sind (siehe hierzu auch den zweiten Link unten).

Dauerbrenner (Neo-)Garage

AushĂ€ngeschilder der einschlĂ€gigen Szene waren bis vor nicht allzu langer Zeit The Monochords, die u.a. mit den australischen Garagerock-Stars The Vines tourten, und Good Heart Boutique, die sich als Tour-Support von Bela B. (Die Ärzte) eine betrĂ€chtliche Fanbase aufgebaut hatten. Beide Bands konnte man 2008 letztmals vereint auf der BĂŒhne sehen, und doch sind sie der örtlichen Szene nicht verloren gegangen: In neuen Konstellationen und mit neuen Namen wie Dead City Dolls bzw. The Arrrghhs! oder The Crescendoes gewinnen sie derzeit abermals Zulauf. Nur Benni Thiel, der sowohl bei den Monochords als auch bei Good Heart Boutique das Schlagzeug bediente, hat sich ein StĂŒck weit abgesetzt: Er gehört jetzt zur neuen Band von Jochen Distelmeyer, der mit seiner frĂŒheren Formation Blumfeld zu den Helden der „Hamburger Schule“ zĂ€hlte. Übrigens bilden The Arrrghhs! zusammen mit ihren Rhein-Main-Kollegen Low500 und House Williams ein vom Garagensound inspiriertes Dreigestirn: Sie alle stehen beim international aktiven Frankfurter Label Hazelwood unter Vertrag (womit sie quasi zum Clan der ebenfalls dort beheimateten, multinationalen Garagenrocker von King Khan & The Shrines gehören).

Außerordentlichen Ehrgeiz legen derzeit The Fountains an den Tag, die sich von ihrer Herkunft den StĂ€dten Frankfurt und Aschaffenburg zuordnen: Mit unverhohlen professionellen Ambitionen und großem Auftrittseifer haben sie sich in kurzer Zeit zu Medienlieblingen gemausert, einschließlich "Band der Woche"-Status beim Bayerischen Rundfunk. Ihr Sound ist ganz auf ihren selbstbewussten Claim zugeschnitten: "England hat die Arctic Monkeys, Amerika hat The Strokes, Deutschland hat The Fountains." Relativ neu auf den Plan treten unterdessen The Swipes, die soeben ihr professionell produziertes DebĂŒtalbum eingespielt haben (Veröffentlichung voraussichtlich Anfang 2010). In ihrem Programm decken sie die Sixties-Palette besonders breit ab: Mit hypnotischem Acid Punk, klassischen Sounds nach Art von The Who oder The Doors sowie Neo-Garage/Punk-Nummern im britisch/amerikanisch/skandinavischen Stil loten sie das Genre von allen Seiten aus. Die Erwartungen sind hoch gesteckt, denn die Swoons, ein VorgĂ€ngerprojekt der Swipes, gehörten zu den gern aufgelegten Lieblingen der (zwischenzeitlich verstorbenen) britischen Radio-DJ-Legende John Peel.

Protagonisten und Exoten

Besonders exotische Rollen in der Frankfurter Garage & Psychedelic-Szene spielen The Satelliters und das Duo S/T, die beide die Garage-UrvĂ€ter The Standells als einen ihrer wichtigsten EinflĂŒsse angeben. Gemeinsam haben diese Projekte auch, dass sie jeweils eine außergewöhnlich umfangreiche Discographie vorweisen können. Aufgrund ihrer sehr speziellen musikalischen Nischenpositionen (Satelliters: Raw Vintage Garagebeat; S/T: 60’s/70’s Krautrock und Freakbeat) sowie ihrer ausgedehnten Auslands-Exkursionen sind ihre Fans allerdings ĂŒber den ganzen Globus verstreut - in den USA kennt man sie z. T. besser als in ihrer Heimatregion. The Satelliters wurden sogar von Dionysus, einem der fĂŒhrenden amerikanischen Sixties-Label gesignt.

Redondo Beat (die vorĂŒbergehend ebenfalls Monochords-Mitglieder im Line-up hatten), Slawheads, Twiggy Killers, Science Fiction Army und Ray Barracks lauten die Namen weiterer Protagonisten, die mit Sixties-Anleihen von sich reden machen. Auch die oben bereits erwĂ€hnten Sushimob ordnen sich hier ein StĂŒck weit ein, indem sie „Garage“ als ihr Hauptgenre angeben. Des weiteren wĂ€ren im 60's-Kontext die Bands Saviour und Mazy Fields zu nennen, die stark vom Sound von Beatles & Co geprĂ€gt sind, sowie zwei reine Frauenbands: Der stimmungsvolle Indie-Gitarrenrock von En Transit wird nicht von ungefĂ€hr oft mit dem Sound der Sixties-Filmmusik-verliebten Stereolab verglichen. Und The Slags, die sich selbst gerne als „Rockschlampen“ stilisieren, ihre Gitarren zuweilen mit Vibratoren traktieren und auch mal The Sonics covern, passen damit perfekt ins herzlich-raue Garage-Bild – obgleich sich in den 90ern selbst das Major Label Sony Music (das damals noch mit seiner deutschen Dependance in Frankfurt residierte) nicht zu fein war, mit ihnen zu kooperieren.

Treibstoff fĂŒr die Szene

Es sind einmal mehr die vielschichtigen Strukturen der Frankfurter Musikszene, die stĂ€ndig neue Energien in das Retro-/Neo-Garagengenre kanalisieren. EinschlĂ€gige Veranstaltungsreihen mit Namen wie Moonshake Party, Zoom Party, Up Club oder The Sixties Lounge, Spezialisierte PlattenlĂ€den wie Sick Wreckords, Lucky Star Records und Mythos Records, Programme wie Spacy Stardust Show, Vanilleclub, Beatniks Show, "Sophisticated Boom Boom" u. a. im freien Lokalradio sowie eine wachsende Zahl fachkundiger DJs und DJanes: Sie alle sorgen mit dafĂŒr, dass das Publikum auf den Geschmack gebracht wird und die Frankfurter Rockszene mithin einen sehr spezifischen Farbtupfer erhĂ€lt. Clubs, die auf den (Neo-)Garage-Sektor einen besonderen Schwerpunkt legten, konnten sich im Jahr 2009 rĂ€umlich vergrĂ¶ĂŸern ("Das Bett") bzw. eine noch mehr Platz bietende Dependance aufbauen (Dreikönigskeller mit "Orange Peel"). Ein Trend, der Kreise zieht: LĂ€ngst gibt es auch in der erweiterten Region beliebte Veranstaltungsreihen mit Namen wie Beat Explosion (Darmstadt), 60’s Garage & Surf Party (Hanau) und Beatbaracke (Aschaffenburg).


AusfĂŒhrliche Übersicht zu den Strukturen der Frankfurter Musikszene (Indiepedia)

Kommentierte Linksammlung: Musiklandschaft Rhein-Main, mit Schwerpunkt Garage/Indie (Mister Wong)

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